20 Jahre Dialog

Heute habe ich meine Rede (wieder) gefunden, die ich 2001 anlässlich des 20jährigen Bestehens des Vereins Dialog gehalten habe. Als Reminiszenz an „damals“ hier der Wortlaut.

„Kennt ihr das Greenpeace-Plakat: „Die Erde ist ein 46 Jahre alter Mensch?“ Also ich finde das Plakat ausgezeichnet. Warum? Wegen der ersten Zeile: „Stellen sie sich vor, die Erde ist nicht 46 Milliarden Jahre alt sondern ein Mensch von 46 Jahren.“ Punkt. Ich hätte gerne, dass ihr das, was ich nachher jahreszahlen- oder zeitangaben-mäßig noch sagen werde, unter dem Gesichtspunkt von 46 Milliarden Jahren Erdengeschichte betrachtet. Was spielen da 1, 2 oder selbst 99 Jahre eine Rolle…

Dieser Hinweis ist alleine schon deswegen wichtig, weil auch die Geburtsstunde des Dialog jahreszahlenmäßig ein klein wenig im Dunkeln liegt. Aber im Angesicht von 46 Milliarden Jahren ist das wohl nicht so von Belang. Es kann 1979, 1980 oder 1981 gewesen sein. Es waren jedenfalls die frühen 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Und dass wir uns richtig verstehen, wir waren damals nicht nur kalendarisch im vorigen Jahrhundert, sondern auch kulturell und irgendwie psychodings. Erinnert ihr euch noch, z.B. an die Mode? Damals hat man die breiten Schulterpolster getragen, nicht nur unter den Sakkos, nein, auch unter den Pullovern, den T-Shirts und wer weiß sonst wo! Die Haare knapp schulterlang und gekringelt (kurz darauf sind die Strähnchen gekommen), weiße Socken waren hoch populär. Eine Ausbildung zur SozialarbeiterIn hat damals zwei Jahre gedauert und herausgekommen sind sie mit einem eigenen Modestil: Sozialarbeiter trugen damals Latzhosen, Sozialarbeiterinnen indische Kleider oder Sarongs, wichtig: lila musste dabei sein. Ein Brickerl hat S 2,50 gekostet, im Radio liefen die unsäglichen ABBA, in der „Musicbox“ spielten sie schon „The Boss“, und, ich weiß nicht ob das wirklich stimmt, aber „love is in the air“ war auch populär. im Fernsehen gaben sie Miami Vice (mit jeder Menge Jagd auf Drogendealer und in den hübschen Sakkos…), in Österreich hatten wir damals die großen Friedensdemos, eine sozialdemokratische Regierung unter Kreisky, Dallinger war Sozialminister. In den Vereinigten Staaten hatte Otto Kernberg zu dieser Zeit bereits nicht nur ein komplettes – und komplett unleserliches – Buch über Borderline-Störung geschrieben, nein, Heinz Kohut hat dem bereits widersprochen gehabt, Woody Allen war damals bereits seit Jahr und Tag in Psychoanalyse und in Westeuropa hat man unter Psychotherapie so ziemlich alles verstanden, was einerseits nicht medizinisches Heilen, trotzdem irgendwie nerv- und herzzerreißend war. Weh musste es tun. Und weh hat sie getan, die „harte Liebe“ in den Encounter-Gruppen am Friedrichshof, in den Wäldern rund um die großen Städte sowie in den stationären Einrichtungen der Psychiatrie (vor und nach der Reform). Dort hat man gerade begonnen gehabt, diese und andere neue Methoden an den eben abgesonderten Drogensüchtigen auszuprobieren.

Vor zwanzig Jahren also haben sich in einem Hinterzimmer einer großen österreichischen Versicherungsgesellschaft ein paar Freunde (und Freundinnen?) und Bekannte der Familien zusammen gefunden, um etwas Neuartiges in Sachen Behandlung von Drogenabhängigen auszuprobieren: ambulante Betreuung von Drogenabhängigen, -gefährdeten und ihren Angehörigen. Der „Dialog“ war geboren! Eine österreichische Erfolgsgeschichte nimmt ihren Anfang.
Die Mär geht, dass sich etwa um die Zeit herum (ein paar Jahre früher wird es wohl gewesen sein…) ein Jugendlicher in den Vereinigten Staaten in seinem Hinterzimmer eingeschlossen hat und mit einem Produkt herausgekommen ist, das wörtlich übersetzt „winzigweich“ heißt. Es ist eine Befehlssprache für Rechenmaschinen, die für Haushalte irgendwie nützlich sein sollten. Er hat damit den Grundstein für den All-American-Dream gelegt. Ich stell mir gerade vor, wie der junge Bill Gates damit nach Österreich kommt und sagt: „ich hab ‚Winzigweich’ erfunden.“ Mit ein bisschen Pech wäre der junge Mann von zwei Herrn, ganz in weiß, besucht worden, die gesagt hätten: „leiwand, Oida, und wir haben eine hübsche weiße Jacke für dich, die man hinten knöpfen kann“. Vielleicht wäre er dann mit den selben oder ähnlichen Medikamenten behandelt worden, mit denen ein junger Arzt in dem erwähnten Wiener Hinterzimmer – nicht ganz legal – versucht hat, die Leiden der Süchtigen zu lindern. Nicht nur uns wäre damit manche Schwierigkeit erspart geblieben, hätte man den Grünschnabel und seine halbfertigen Produkte rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen.

Zuerst haben der junge Arzt und seine Freunde (und Freundinnnen) ehrenamtlich gearbeitet. Nicht viel später hat es die erste bezahlte Halbtagsstelle für eine Sozialarbeiterin gegeben. Die beiden haben sich das Zimmer geteilt. Vielleicht wollten sie es dem Jungen aus den Staaten gleich machen und haben sich auch darin eingeschlossen. Herausgekommen ist jedenfalls die „psychosoziale Betreuung“. Ein durchschlagender Erfolg. Keine therapeutische Station oder Ambulanz in Österreich, die heute auf „psychosoziale Betreuung“ verzichten mag. Psychosoziale Betreuung kann man sich auch als Befehlssprache vorstellen, diesmal kombiniert aus medizinischem und paramedizinischem Latein: für die Behandlung von psychisch Kranken halt. Wie das genau funktionieren soll, weiß ich sowenig wie bei MS-DOS, ich weiß aber, dass wir vergangenes Frühjahr viel Mühe hatten, dies unserem ISO-Zertifizierungs-Begleiter zu erklären. Und ich weiß, dass ich’s mittlerweile in einem unserer Handbücher nachlesen kann. Handbücher, die die Absicht verfolgen, das Unerklärliche zu erklären, gibt es auch unter den Programmierern. Und immer, wenn es eine Frage zum – sagen wir – Quellcode gibt, die bereits beantwortet sind, kommt via E-Mail die Antwort:„rtfm“ Ein Kürzel für „read that fuckin’ manual“. Das kann mir unsere QM-Beauftrage jetzt auch sagen!
Böse Zungen wünschen sich, Arzt und Sozialarbeiterin hätten damals vielleicht mehr Radio hören sollen (ich sag nur: „love is in the air…“), dann hätten wir heute nicht das Quirks mit der psychosozialen Betreuung…
Wie auch immer, von da weg ist es Schlag auf Schlag gegangen. Zuerst ein Zimmer dazu, dann noch eines, dann der ganze Stock, dann wieder nur ein paar Zimmer. Substitutionstherapie wurde gesetzlich zugelassen. Das Personal ist mehr geworden. Der Verein hat sich stabilisiert. Die ersten Abgänger (und Abgängerinnen) haben Schwesterorganisationen in ganz Österreich aufgebaut, alle mit dem – übrigens kostenlosen – Programmcode „psychosoziale Betreuung“; – im Prinzip haben wir damit „Unix“ und die Idee der „open source“ Technologie vorweg genommen. Schade dass man dafür nichts verlangen kann…

Im Jahr 2001 haben wir ein Jahresbudget von etwas mehr als 26 Mio ATS, im Jahr davor waren es rund 24 Mio., im Jahr davor ein bisschen weniger und so weiter. In den letzen fünf Jahren werden wir so auf rund 100 Mio ATS gekommen sein. Die 15 Jahre davor werden das in etwa auch eingespielt haben. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Es war mir nicht möglich, die genauen Zahlen von meinem Urlaubsort aus zu recherchieren. Sagen wir, damit es besser klingt, eine Viertel Milliarde Schillinge in 20 Jahren.
250 Millionen Schillinge. Bei einem Preis von 2,50 ATS sind das 100 Millionen Brickerl. Mehr als United Food von den Dingern in einem Jahr weltweit absetzt, nehm‘ ich an. Das ist besser als einen Zug zu überfallen. Auf lange Sicht ist da mehr drinnen. Und es ist völlig legal. Es sind Steuergelder. Die hat irgendein armes Schwein erarbeitet, ein anderer hat’s ihm weggenommen und uns gegeben. Was haben wir damit gemacht? Das ist die Frage, die uns alle Jahre wieder die Politik in der Gestalt unserer Geldgeber fragt. Zurecht übrigens. Die Politiker werden von ihren WählerInnen gefragt: „was habt ihr mit unseren Steuergeldern gemacht?“ Die müssen dann hurtig eine Antwort parat haben. Sonst sind sie abgewählt. Und andere haben das sagen, zum Beispiel die mit den „Sozialschmarotzern“, dem „Arbeitsdienst“ und dem „fleißigen, tüchtigen kleinen Mann“ im Mund.
Da helfen ihnen unsere Berichte ungemein. Und wir haben uns auch viel Mühe damit gegeben: Alle Dialog-Berichte der vergangenen 20 Jahre übereinandergestapelt, mit ihren –zigfachen Kopien, ergeben mindestens zwei Säulen vom Boden bis an die Decke. All das beschriebene, bedruckte, kopierte, versandte, bekritzelte und sonst wie von uns verwendete Papier der letzten 20 Jahre: dafür mussten die österreichischen Bundesforste einen kleinen Wald roden! So gesehen sorgen wir jedenfalls für Arbeitsplätze im „primären Sektor“ der Volkswirtschaft. Und wir tragen zum Ozonloch bei. Da können andere drüber forschen. (Zum Beispiel über den Zusammenhang von Dialog, Ozonloch und dem Großwerden von Winzigweich. Und wie sie dann ihre Ergebnisse dem staunenden Publikum mit Winzigweichs „Kraft-zeigen“ präsentieren.)
Was haben wir sonst mit dem Geld gemacht? Alleine 2000 haben wir 1400 unterschiedliche Personen gesehen, heuer waren es bisher auch schon viele und 1999 deutlich über 900. Wenn wir das so vorsichtig hochrechnen, dann haben wir in den vergangenen 20 Jahren wohl mehr Menschen mit einer Drogenproblematik gesehen, als Österreich überhaupt hat! Wie das geht? Das weiß ich nicht. Aber vielleicht so wie der Verkehrexperte Knoflach uns das immer mit den neuen Straßen erklärt: Eine neue und leistungsfähige Straße zieht solange den Verkehr an, bis deren Leistungsfähigkeit zusammenbricht. Eine noch leistungsfähigere neue Straße, eine Autobahn muss dann gebaut werden. Vielleicht erzeugen wir ja die Suchtkranken, die wir dann behandeln? Gut, vielleicht sind in meiner Rechnung auch ein paar Fehler drin: aber ich hatte keinen Zugang zu unserm Archiv, und unser Freund Bill hat noch keine Möglichkeit gefunden, dass unser leistungsfähiges Dokumentationssystem sowohl on- als auch offline arbeitet, ohne dass es hintennach zu einem Crash kommt. Außerdem: Länger als 4 Jahre reicht der Datenbestand darin noch nicht zurück. Wenn überhaupt. Ich erinnere mich an den Frühsommer 2000. Das ist eine Szene wie aus Pulp Fiction. Die Szene, als John Travolta und sein Partner eine handvoll Jungendlicher „erledigen“, aber einen der Jungen im Auto mitnehmen, zu ihrem Gangster-Boss. John hält seine Pistole auf das eingeschüchterte Jungchen, derweil er und sein Partner sich streiten, ob das, was sie da oben in der Wohnung erlebt haben, nun ein Wunder war oder nicht. Dann kommt eine Bodenwelle. Der Schuss löst sich und sie haben mächtig viel aufzuräumen in dem Auto. Bei uns war es ähnlich: eine Bodenwelle und 6 Monate Arbeit waren gelöscht. Bloß: uns hat kein Mr. Smartass Harvy Keithel geholfen. Wir haben unsere Lektion gelernt! Fragen zu „Horizont“? Ich sag nur „rtfm“!
Was haben wir sonst noch mit dem Geld gemacht? Zu Beginn betreuten wir Drogenabhängige, –gefährdete sowie deren Angehörige. Heute betreuen wir Suchtkranke mit einer breiten Angebotspalette (psychosoziale Betreuung ist auch darunter!), gehen hinaus in die Schulen und Betriebe, erarbeiten Präventionskonzepte, bieten Kurse an, sind in Partnerschaften eingebunden – SozAk St. Pölten, Donau Uni Krems, EQUAL, wir betreiben eine Ambulanz und dürfen darin Medikamente verschreiben, die andere nicht dürfen. Gut, wir haben noch kein Forschungsprojekt gestartet, aber vielleicht wird das erste eines sein, wo wir Heroin als Medikament der Wahl ausprobieren. Ich kenn da ein paar Ärzte, die wären ganz scharf drauf.
Wir haben einen festen Platz im Netzwerk der Wiener Drogeneinrichtungen und einen guten Namen. Der Dialog gilt zu Recht als Trendsetter in der Arbeit mit Suchtkranken: Die Angebote sind wohl überlegt und können sich halten. Das gilt für die Arbeit mit Einzelnen, Gruppen und komplexen Systemen. Unsere Berichte sind Vorlage für andere Einrichtungen, aus unseren Reihen kommt der Drogenbeauftragte der Stadt Wien. Und, wenn ich nicht irre, wir haben das Ohr am Puls der Zeit: Ich sag nur Kommunikationsplattform, E-Mail-Service, Chat und ISO. Erinnert ihr euch noch an die Klausur vor drei, vier Jahren: „Ich bin ein E-Mail und will da rein!“? So ist das mit der neuen Zeit. (Jetzt haben wir die E-Mails und wissen nicht, was wir damit machen sollen…)
Der Dialog hat in den vergangenen 20 Jahren knapp 100 Personen einen Arbeitsplatz geboten, alleine heuer arbeiten mehr als 50 Personen für diese Einrichtung. Das ist ein – gar nicht so kleines – mittelständiges Unternehmen. Und alle haben sich einer Aufgabe verschrieben: Die vielfältigen Aufgabenstellungen dialogisch, im Gespräch, zu lösen! Beispielgebend zu sein.

Ich war vor ein paar Wochen auf einer besonderen Geburtstagsfeier. Meine Tochter ist 18 Jahre alt geworden. Die Kindesmutter hat sich bei den anwesenden Bekannten und Verwandten für deren „upbringing“ bedankt. Sie haben ihr den Boden und das Netz bereitet, dass sie das geworden ist, was sie ist. Ich finde das einen tollen Gedanken, den ich aufgreifen möchte: Ich möchte mich – stellvertretend für den Dialog – bei allen Müttern und Vätern, allen Patenonkeln und –tanten, allen Erbverwandten sowie den 12 Feen und der einen für ihren Beitrag zum Großwerden des Dialogs bedanken. Ihr und Sie haben den Dialog zu der Einrichtung gemacht, die er heute ist: eine Organisation die erwachsen und selbständig ist, die dem anderen mit Respekt begegnet, die sich um das Verstehen bemüht, die eine Organisation ist, die von den anderen anerkannt, respektiert und vielleicht auch ein klein wenig bewundert wird.
Ich bin davon überzeugt, dass eine Organisation eine Art von lebendigem Organismus ist: Bloß, dass solch ein Organismus länger leben kann, als seine menschlichen Verwandten. Ich wünsche dem Dialog ein so langes Leben wie den anderen großen Vereinen Österreichs: dem ÖAMTC, ÖGB, KPÖ, Alpenverein, Rotes Kreuz, ASBÖ, usw. Auf die nächsten 100 Jahre Dialog.
Danke sehr.“